Dieses Beispiel unterstreicht und verstärkt den Mehrwert, den gutes Projektmanagement und gute Change-Management-Praktiken bieten. Es zeigt, wie die Verhaltenswissenschaft, über die wir in unserem Buch immer wieder gesprochen haben, viele Anwendungsmöglichkeiten hat, darunter, vielleicht überraschend, auch im Projektmanagement.
Wir untersuchen den Fall des SAP Lidl ERP-Fehlers (Enterprise Resource Planning), da dies eine bekannte und weithin kommunizierte Fallstudie ist, zumindest in Tech-Projektkreisen! Die Autoren waren nicht an dem Projekt beteiligt, sodass wir es objektiv diskutieren können. Das Projekt ist wahrscheinlich größer als Ihr Produkt oder Ihre Dienstleistung, aber hoffentlich werden dadurch die gewonnenen Erkenntnisse umso deutlicher.
Das Scheitern dieses Projekts kostete Lidl am Ende rund 580 Millionen USD und ist daher unserer Aufmerksamkeit wert. Dies ist ein bekannter, aber keineswegs isolierter Fall. Wir hätten genauso gut den Ausfall des Gehaltsabrechnungssystems des Gesundheitsministeriums von Queensland (Australien) untersuchen können, der den australischen Steuerzahler schätzungsweise unglaubliche 1,5 Milliarden AU$ (850 Millionen USD) kosten und sogar eine Landesregierung zu Fall bringen wird. Dieses Projekt umfasste auch SAP, in diesem Fall eine SAP HR- und WorkBrain-Dienstplanlösung, aber wir wollen hier nicht auf SAP herumhacken, da es viele Beispiele von anderen Anbietern für berühmte Projektfehler gibt. Der bedeutendste ERP-Fehler aller Zeiten ist angeblich das gescheiterte Oracle ERP-Projekt der US Air Force, das über 5 Milliarden USD kostete! Vielleicht sind diese beiden Fallstudien etwas für ein weiteres Humology-Buch!
Aber kommen wir zurück zu unserer Lidl ERP-Fallstudie. Für diejenigen, die es nicht wissen: Ein ERP- oder Enterprise Resource Planning-System ist eine Kategorie von Software, die Organisationen implementieren, um Kerngeschäftsprozesse zu unterstützen, darunter Finanzen, Beschaffung, Personalwesen, Lohnbuchhaltung, Lieferkettenmanagement, Verkauf, Vertrieb usw. Die führenden Akteure in diesem Sektor sind SAP, Oracle, Microsoft Dynamics, Infor und Workday. Leser in Europa und den USA sind wahrscheinlich sehr vertraut mit Lidl und haben dort wahrscheinlich sogar schon einmal eingekauft. Lidl, dessen Hauptsitz sich in Deutschland befindet, ist eine führende Discount-Supermarktkette mit über 11.000 Filialen in 29 Ländern und über 300.000 Mitarbeitern.
Im Jahr 2011 startete LIDL ein Projekt, um sein selbst entwickeltes Bestandsverwaltungssystem durch eine „SAP for Retail“-Lösung zu ersetzen. Das Projekt erhielt den Namen „eLWIS“ (elektronisches Warenwirtschafts- und Informationssystem von Lidl) und sollte das Altsystem ersetzen und die Effizienz im gesamten Filialnetz und den über 140 Logistikzentren steigern. Das Projektteam bestand aus rund 1.000 Mitarbeitern und „Hunderten von Beratern“.
Während des Projektlebenszyklus kam es in der Organisation zu einer hohen Fluktuation in der Führungsebene, was sich zweifellos auf die Kontinuität des Projekts ausgewirkt hat. 2014 ernannte Lidl einen neuen CEO, der 2017 von seinem Posten zurücktrat. In dieser Zeit verließ auch der IT-Leiter das Unternehmen. Das Projekt geriet wirklich ins Stocken, als Lidl beschloss, die Lösung anzupassen, anstatt seine Geschäftsprozesse an die gelieferte Funktionalität anzupassen. Konkret wollte Lidl seine Praxis beibehalten, seine Lagerbestände auf Einkaufspreisen zu basieren, anstatt wie bei SAP standardmäßig Einzelhandelspreise zu verwenden. Übrigens ist dies wahrscheinlich eine Kardinalsünde für ERP-Projekte; Sie sollten Ihre Prozesse immer an die gelieferte Funktionalität anpassen. Wenn Sie Ihre Geschäftsprozesse nicht ändern können und das System nicht das tun kann, was Sie tun müssen, dann hätte dies im Systemauswahlprozess berücksichtigt werden müssen. Das Projekt schritt bis zu dem Stadium voran, in dem es in einigen kleineren Ländern in Betrieb genommen wurde, aber im Juli 2018 wurde dem Projekt der Stecker gezogen, da Lidl angab, dass „die ursprünglich definierten strategischen Ziele mit vertretbarem Aufwand nicht erreicht werden können“.
Lidl gab für das Projekt letztlich rund 500 Millionen Euro aus, ohne dass sich die Investition rentierte. Zudem war das Unternehmen über sieben Jahre lang ohne neues System ausgekommen und kehrte schließlich zu seinem alten System zurück, das vermutlich inzwischen veraltet war. Während dieser Zeit lenkte dieses Projekt die Bemühungen von anderen, möglicherweise lohnenderen Projekten ab. Es hätte außerdem zu einer bereits bestehenden Veränderungsmüdigkeit oder -sättigung beigetragen und die Bereitschaft des Unternehmens zu zukünftigen Veränderungen verringert.
Welche vernünftigen Schlüsse können wir daraus ziehen, was Lidl anders gemacht hat? Lassen Sie uns dies unter den Überschriften 1) Projektmanagement und Verhaltenswissenschaft und 2) Änderungsmanagement untersuchen.
Das britische Behavioural Insights Team weist darauf hin, dass Projektmanagement im Allgemeinen drei kognitiven Verzerrungen unterliegt: dem Optimismus-Bias, dem Sunken-Cost-Bias und dem Gruppendenken.
Bei der Planung und Initiierung dieses Projekts können wir davon ausgehen, dass einige dieser potenziellen Herausforderungen besprochen wurden. Hat die Gruppe unter einem Optimismus-Bias gelitten, insbesondere unter einem Planungsfehlschluss, indem sie davon ausging, dass diese Herausforderungen überwunden werden würden, und überwogen ihre Erfolgschancen die Wahrscheinlichkeit des Scheiterns? Bei einer so langen Dauer und einem so hohen Personalwechsel kann man davon ausgehen, dass das Projekt mehrere Phasenüberprüfungen durchlaufen hat, vielleicht bei der 100.000- oder 250.000-Marke? Hat das Team unter einem Fehlschluss der versunkenen Kosten gelitten? Dies ist die Tendenz, bei der wir uns von vergangenen versunkenen Kosten beeinflussen lassen, die keinen Einfluss auf zukünftige Ergebnisse haben sollten. „Nun, da wir bereits 300.000 investiert haben und nichts vorzuweisen haben, können wir genauso gut weitermachen und noch mehr investieren“, könnte ein leitender Angestellter postuliert haben. Wir können davon ausgehen, dass Gruppendenken bei diesem gescheiterten Projekt eine Rolle gespielt hat. Tatsächlich müssen ein oder zwei Personen die Zeichen an der Wand gesehen haben, als die Entscheidung getroffen wurde, die Lösung anzupassen. Vielleicht haben Gruppenzwang und Gruppendenken sie davon abgehalten, ihre Bedenken zu äußern.
Angenommen, es gab ein bedeutendes Change-Management-Team für das Projekt. Was hätte dieses Team anders machen können? Ist es dem Widerstand gegen den Wandel effektiv begegnet, d. h. dem Widerstand gegen die Änderung des Geschäftsprozesses und der Entscheidung, die Lösung stattdessen anzupassen? Mit einer effektiven Change-Management-Strategie hätte das Projektteam diesen Widerstand möglicherweise bewältigen können, indem es Schlüsselbotschaften kommuniziert und die Unterstützung einer Change-Champion-Community in Anspruch genommen hätte.
Die Fluktuation der Führungskräfte spielte vermutlich eine Rolle beim Ergebnis dieses Projekts. Dies unterstreicht, was wir an anderer Stelle in unserem Buch über die Bedeutung des Stakeholder-Managements gesagt haben. Konnte das Change-Team die neuen Führungskräfte proaktiv als wichtige Stakeholder identifizieren und Schritte unternehmen, um sie sowohl als Stakeholder zu managen als auch als Führungskräfte zu unterstützen? Untersuchungen von Prosci zeigen, dass aktives und sichtbares Sponsoring ganz oben auf der Liste der Faktoren steht, die zum Projekterfolg beitragen. Change-Management-Experten spielen auch eine entscheidende Rolle bei der Unterstützung von Projektsponsoren, insbesondere derjenigen, die möglicherweise neu in der Position des Projektsponsors sind.